Der "Idealtypus" einer Magersuchtsfamilie
Diese Konstruktion dient einem leichteren Überblick über
Verflechtungen innerhalb der Familie. In der Realität gibt
es mehr oder minder große Abweichungen von diesem Typus, da
jede Familie ihr individuelles System besitzt.
Bindungsfamilien
Die Bindung innerhalb der Familie offenbart sich in fast allen
Prozessen und Strukturen. Die Beziehungen stehen unter dem Motto:
"Geben ist besser denn Nehmen. Wer verzichtet, ist ein wertvoller
Mensch." Dieses Motto ist ursächlich für die starke
Bindungsdynamik der Familie. Hier liegt der zentrale Ursachenkomplex
der Krankheit Magersucht. Sie beginnt meist zu einem Zeitpunkt,
wenn die natürliche Ablösung von der Familie erfolgen
soll, nämlich in der Pubertät. Hier ist Individualität
für ein ausgeglichenes Heranwachsen nötig. In Magersuchtsfamilien
sind alle Familienmitglieder gleichgestellt. Unterschiede existieren
praktisch nicht und werden nicht angesprochen.
Die Autonomie und das Trennungsbestreben sind eingeschränkt.
Die Eigenständigkeit und das Abnabeln von dem Elternhaus
wird praktisch unmöglich gemacht. Die Familie versucht, natürliche
Erfahrungen, die in der Entwicklung gemacht werden müssen,
zu ersetzen. Dies gelingt allerdings nur bei kleinen Kindern,
da die Eltern in dieser Phase die Bezugspersonen sind.
Während der Pubertät nehemen die Gleichaltrigen einen
höheren Stellenwert bei der Meinungsbildung ein als die Familie.
Jugendliche suchen Vergleichsmöglichkeiten zwischen ihrer
Familie und den Familien der Freunde. Ab diesem Zeitpunkt treten
vermehrt Konflikte in den Familien auf.
Harmoniebedürfnis
Innerhalb der Familie herrscht eine scheinbare Harmonie. Jeglicher
Streit wird vermieden. Es besteht eine sehr sensible Verbindung
zwischen den Familienmitgliedern. Dieser feste Zusammenhalt und
eine strikte Abgrenzung zur Außenwelt verhindern eine Individuation
jedes Einzelnen.
Stark ausgeprägte Impulskontrolle
Gefühle müssen beherrscht, besonders feindselige und
böse Gefühle gänzlich unterdrückt werden.
Dies gilt auch für das Essen. Es bestehen feste Regeln und
fixe Zeiten für die Essensgewohnheiten. Das Wort "Lust" ist
ein streng tabuisiertes Wort. Auch auf den Bereich der Sexualität
bezogen. Scham- und Schuldgefühle sind sehr ausgeprägt,
sowohl der gesamten Familie gegenüber, als auch gegenüber
jedem Einzelnen. Die Impulskontrolle erstreckt sich auch auf die
Bereiche Neid, Eifersucht, Zorn und Wut. Diese Gefühle dürfen
nicht offengelegt werden. Dadurch entstehen unterschwellige Konflikte.
Anpassung an die Umwelt
Magersuchtsfamilien scheuen sich vor dem "Gerede der Nachbarn".
Die Normen der Umgebung werden Gesetz. Sind die Normen Askese,
Sparsamkeit, Verzicht und Unauffälligkeit, werden diese auch
in der Familie übernommen. Magersuchtsfamilien sind meist
sehr pflichtbewußte Familien. Sie werden in ihrem sozialen
Umfeld oft als tüchtige und strebsame Menschen geachtet.
Magersüchtige Kinder fallen bis zur Phase der Pubertät
in der Schule häufig durch gute Leistungen im Sport und im
Unterricht auf. Sie sind leistungsorientiert, unauffällig
und sozial sehr angepaßt.
Gerechtigkeitssinn
Für die Eltern ist es besonders wichtig, alle Kinder gleich
zu behandeln. Jedoch kann es in einer Familie keine absolute Gleichbehandlung
geben, denn jede Beziehung ist individuell. Kinder können
nicht normiert werden. Jedes Individuum hat eigene Wünsche
und Vorlieben. Dadurch sind Konflikte vorprogrammiert.
Trennungsproblematik
In Magersuchtsfamilien tritt ungewöhnlich häufig die
Verlust- und Trennungsthematik auf.
Trennung bedeutet für jeden Menschen etwas anderes. Es kann
sowohl etwas Positives, als auch Negatives darstellen. Positiv
wäre z.B. das Abnabeln vom Elternhaus mit der damit verbundenen
Eigenständigkeit. Eine negative Konnotation wäre die
Assoziation von Trennung mit Tod, Abtrennung, Zerreißen
etc. In Magersuchtsfamilien liegt die Bedeutung der Verlustthematik
tendenziell häufiger im negativen Bereich. Diese Trennungs-
und Verlustängste wandeln sich in diesen Familien schnell
in Sorge, liebende Fürsorge und ein erhöhtes Verantwortungsgefühl
für den anderen. Diese Gefühle der Verantwortung beziehen
sich häufig auf das körperliche Wohlbefinden.
Ehe der Eltern von Magersüchtigen
Die Ehen der Eltern sind meist sehr stabile Ehen, mit einem starken
Treueband. Das macht die Kinder empfänglich für die
an sie gestellten elterlichen Wünsche und Hoffnungen. Kinder
können mit solchen Situationen leicht überfordert werden.
Die freie Persönlichkeitsentwicklung wird somit eingeschränkt.
In dieser Ehe, meist eine Vernunftehe, ist Sexualität relativ
unwichtig. Eine traditionelle Rollenverteilung ist sehr oft vorzufinden.
Sexualität
Kommt die Tochter in die Pubertät, erlebt sie eine weitere
Schwierigkeit. Sie bekommt weibliche Rundungen und das tabuisierte
Thema Sexualität wird unumgänglich. In vielen Magersuchtsfamilien
empfindet der Vater einen leicht erotischen Gefallen an seiner
heranwachsenden Tochter. Dieser Problematik geht die Tochter mit
der Abmagerung aus dem Weg, da sie das "Frau werden" mit dem Hungern
unterdrückt.
Auswirkungen der Krankheit in der Familie
Die mangelnde Nahrungsaufnahme, Erbrechen und zunehmende Gewichtsabnahme
stellt für das Kind eine Möglichkeit dar, die Familie
in Alarmzustand zu versetzen. Es versucht direkt oder auch indirekt
durch ihr Verhalten auszudrücken, daß es nach etwas
"hungert". Dieses Hungern bezieht sich nicht auf Nahrung, sondern
auf die fehlende Anerkennung der Eltern. Die Eltern können
diese versteckte Botschaft meist nicht erkennen und reagieren
auf das Abmagern mit zusätzlichen Bemühungen um das
körperliche Wohl.
Durch die lebensbedrohliche Abmagerung bekommt die Magersüchtige
von ihrer Familie endlich die lang ersehnte Zuwendung. Nun drängen
sich aber Ängste auf, ob die Aufmerksamkeit alleine durch
das Symptom der Magersucht besteht. Doch sie nimmt meist die Krankheit
in Kauf, um die Zuwendung der Familie nicht wieder zu verlieren.
Allerdings hat die Magersucht der Tochter noch eine weitere Bedeutung
in der Familie. Vor dem Ausbruch der Magersucht bestanden größtenteils
schon latente Spannungen und Probleme in der Familie. Durch die
Krankheit bekommt die Familie nun wieder eine Aufgabe und eine
gemeinsame Sorge. Das Leid um die Tochter lenkt von anderen Schwierigkeiten
ab. Diese Gründe machen es den Magersüchtigen so schwer
aus diesem Teufelskreis der Magersucht herauszukommen. Der Schulddruck
und die starke Familienbande machen ihr ein eigenes Leben außerhalb
der Familie unmöglich.
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